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  4. Türkei: Gemeinsamer Aufruf deutscher Juristen und Professoren gegen Erdogan

Meinung Türkei

Wo die Freiheit unterdrückt wird, stirbt die Demokratie

Deutsche Richter, Anwälte, Professoren und Journalisten protestieren gegen die Abwicklung des Rechtsstaates durch Erdogan. In einem Aufruf fordern sie eine klare Haltung von Bundesregierung und EU.

Demokratie lebt davon, dass staatliche und gesellschaftliche Institutionen unabhängig sind. In einer lebendigen Demokratie verbieten sich willkürliche Eingriffe der Exekutive. Was derzeit in der Türkei zu beobachten ist, bereitet nicht mehr nur Sorge, es schmerzt enorm.

Mit ihrem Verhalten gegenüber Richtern und Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Wissenschaftlern und Journalisten höhlen Präsident Erdogan und die Regierung demokratische Strukturen nachhaltig aus. Dazu können und wollen wir nicht schweigen.

Die genannten Berufsgruppen dienen – jede auf ihre Weise – dem Staat und damit dem Volk. Sie sind konstitutiv für ein funktionierendes Gemeinwesen. Seit Monaten schon hat die türkische Regierung sie gegängelt und verfolgt. Jetzt trifft es Tausende, die ihr Berufsleben in den Dienst des türkischen Staates und seiner Bevölkerung gestellt haben, mit ultimativer Wucht: Gerichte, Universitäten und Redaktionen werden „gesäubert“, wie Präsident Erdogan es entlarvend deutlich und sprachlich verachtend auf den Punkt gebracht hat.

Erdogan schließt Zeitungen und Fernsehsender

Es ist ein klarer Angriff auf die Pressefreiheit. Der türkische Staatspräsident Erdogan verbietet Zeitungen, Fernsehsender und Radiostationen. Viele Journalisten werden festgenommen.

Quelle: Die Welt

Es macht uns fassungslos, wie umfassend Suspendierungen, Entlassungen und sogar Verhaftungen die tragenden Säulen der türkischen Demokratie beschädigen. Es ist schlicht unvorstellbar, dass sich etliche Tausend Richter, Staatsanwälte, Professoren und Medienvertreter gemeinschaftlich gegen die gewählte türkische Regierung verschworen haben.

Erdogan verfolgt eine illegitime politische Motivation

Bereits in der Vergangenheit wurden Anwälte verhaftet, weil sie ihren Beruf ausgeübt haben – nur für die „Falschen“. Es ist offensichtlich, dass längst „schwarze Listen“ existierten, die Präsident Erdogan nach dem versuchten Putsch aus der Schublade geholt hat.

Die Frage muss beantwortet werden, ob er sich nun schlicht möglichst vieler entledigen will, die mit ihrem kritischen Geist für gelebte Demokratie stehen.

Politische Gegner haben auch in der Türkei Respekt verdient, nicht Berufsverbot und Verfolgung. Wo im Einzelfall objektiv belastende Verdachtsmomente für ein rechtswidriges Verhalten vorliegen, muss das im Rahmen rechtsstaatlicher Ermittlungen und Prozesse aufgeklärt werden. Die Unterstützung des Putschversuchs war widerrechtlich und muss geahndet werden.

Wir befürchten aber, dass Präsident Erdogan angesichts der enormen Zahl Verfolgter tatsächlich keine legitime juristische, sondern eine illegitime politische Motivation antreibt. Sondergerichte oder Spezialabteilungen der Staatsanwaltschaft sind jedenfalls keine geeigneten Instrumente, um gegen Verdächtige des Putschversuchs vorzugehen.

"Hier sollen Leute grundlos verfolgt und diskriminiert werden"

Nach der Entlassung und Festnahme Tausender Staatsbeamter bringt Erdogan auch Geheimdienst und Militär unter seine Kontrolle. Jetzt dehnt er seine "Säuberung" sogar nach Deutschland aus.

Quelle: Die Welt

Die türkische Gesellschaft hat einen Anspruch darauf, dass ihre Institutionen nicht politisch missbraucht werden. Richter und Staatsanwälte müssen unabhängig und unparteiisch arbeiten können. Wer als Bürger der Türkei ins Visier der Strafverfolgungsbehörden gerät, darf nicht zum Spielball politischer Interessen werden.

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Wer vor Gericht ein gerechtes Urteil erwartet, muss sich darauf verlassen können, dass sein Richter strikt nach Recht und Gesetz, nicht nach sachfremden Kriterien entscheidet.

Wer einen Rechtsanwalt beauftragt, muss eine professionelle und unabhängige Interessenvertretung erwarten können, die sich nicht an politischem Opportunismus orientiert. Diese Selbstverständlichkeiten eines Rechtsstaates sind in der Türkei zumindest stark ins Wanken geraten.

Journalisten haben es in der Türkei schon lange schwer

Ähnlich verhält es sich bei der Massenentlassung von Dekanen und Professoren türkischer Universitäten. Wissenschaftler müssen unabhängig forschen und lehren können. Die institutionelle Autonomie der Hochschulen und die individuelle Autonomie der Wissenschaftler sind unabdingbar.

Die Freiheit des Geistes ist sine qua non für die Wissenschaft. Wegen einer bloß vermuteten politischen Einstellung die akademischen und persönlichen Freiheiten rigoros einzuschränken, ist nicht hinnehmbar. Es ist zugleich erschreckend, dass türkische Wissenschaftler nicht mehr ins Ausland reisen dürfen. Mit internationalen Standards hat das nichts mehr zu tun.

"Jetzt könnte es wirklich langsam jeden treffen"

Der türkische Präsident Erdogan räumt seine Widersacher aus dem Weg. Auch gegenüber westlichen Medien wächst Ablehnung und Misstrauen, so Türkei-Korrespondentin Luise Sammann.

Quelle: Die Welt

Die Schließung von Zeitungen und Fernsehsendern sowie die Entlassung und Verhaftung von Journalisten ist ein weiteres, schwer wiegendes Element der aktuellen Willkürherrschaft türkischer Autoritäten. Journalisten haben es in der Türkei schon lange schwer, wenn sie objektiv zu berichten wagen, statt nur offizielle Mitteilungen zu verbreiten.

Von Medienvertretern wird es seit Langem als einschüchternd wahrgenommen, wenn unzählige Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet werden, wenn ganze Redaktionen von staatlichen Behörden an der Arbeit gehindert oder übernommen werden und wenn Lizenzen entzogen werden. Trotz dieser enormen Herausforderungen nehmen Journalisten in der Türkei ihren Beruf weiterhin ernst und versuchen unabhängig zu berichten. Die durch sie vermittelte (Medien-)Öffentlichkeit ist notwendige Voraussetzung für ein funktionierendes freiheitliches und demokratisches Gemeinwesen.

Kritisches Denken darf kein Verbrechen sein

Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands und der damit verbundenen Aufhebung der Grundrechte wird die Situation für Journalisten nun aber unerträglich. Presse- und Meinungsfreiheit dürfen nicht zur Verhandlungsmasse in Krisenzeiten werden. Eine unabhängige und freie Information der Bürger darf nicht durch staatlich gesteuerte Medien ersetzt werden. Genau diesen Eindruck vermittelt das Vorgehen der Behörden gegen Journalisten derzeit aber.

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Juristen, Wissenschaftler und Medienschaffende in der Türkei lieben ihr Land und setzen sich für eine freiheitliche Gesellschaft ein. Zu ihrem Berufsbild und ihrem Berufsethos gehört es nicht, immer mit Präsident Erdogan und seiner Regierung einer Meinung zu sein. Es muss klar gestellt werden, dass kritisches oder oppositionelles Denken kein Verbrechen ist.

Erdogan wettert gegen die EU und für die Todesstrafe

Der türkische Präsident Erdogan hat der EU vorgeworfen, ihren Teil des Flüchtlingspakts nicht einzuhalten. Zudem hat er sich erneut für die Einführung der Todesstrafe in seinem Land ausgeprochen.

Quelle: Die Welt

Diese Forderung scheint uns in diesen Tagen aber wirkungslos zu verhallen. In Zeiten von Terrorbedrohung, Flüchtlingsfragen und Wirtschaftsproblemen nehmen manche die Vorgänge in der Türkei kaum zur Kenntnis.

Wir dagegen setzen auf die Kraft des Diskurses: Die Bundesregierung und die Europäische Kommission dürfen nicht zuschauen, wie der Rechtsstaat in der Türkei abgewickelt wird!

Die Forderung, dass die entlassenen oder verhafteten Richter und Staatsanwälte, Wissenschaftler und Journalisten unverzüglich wieder ungehindert ihre Arbeit aufnehmen dürfen, mag angesichts der kommunikativen Totalverweigerung der türkischen Staatsführung illusorisch klingen.

Trotzdem erheben wir sie und erwarten von unseren Volksvertretern in Berlin und Brüssel, dass sie die Forderung mit allem Nachdruck gegenüber der Türkei stellen.

Jens Gnisa ist Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, Bernhard Kempen ist Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Ulrich Schellenberg ist Präsident des Deutschen Anwaltvereins und Frank Überall ist Vorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands.

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