Bildjournalisten
Zeitschrift in prekärer Lage
Grenzenlose Solidarität für das "unverantwortliche" Blatt
Wenn sich das Blatt mit dem aktuellen Zeitgeist beschäftigte, traf der rücksichtslose Witz nicht allein Islamisten, sondern beispielsweise auch die fanatische Freizeitgesellschaft. So machte sich Chefredakteur 'Charb' Charbonnier vor einiger Zeit über Windsurfer lustig, die Opfer von Haien geworden waren und deswegen Kampagnen gegen Haie starteten. Nachdem er in einer Kolumne in drastischer Form Position für die Haie und gegen Surfer bezogen hatte, wünschten ihm Windsurfer den Tod.
Wenn es Windsurfer gewesen wären, die jetzt das Blutbad in der Redaktion angerichtet haben? Was wäre, wenn? Müssten wir den Kampf gegen das Windsurfen generell oder nur extreme Windsurfer aufnehmen? Sollten wir der Partei der Haie beitreten und das Surfen in der Natur generell verbieten? Müsste der Verband der Windsurfer zu einer Demo aufrufen, mit der klargestellt wird, dass Windsurfer Attentate nicht unterstützen?
Welche Konsequenzen aus dem Attentat zu ziehen sind, über diese Frage läuft bereits die Politikmaschinerie heiß. Wenn ausgerechnet solche Politiker wie Marine Le Pen davon profitieren wollen, die von "Charlie" unerbittlich kritisiert wurden, dürfen freilich die Augen gerieben werden.
Die grenzenlose Solidarität mit "Charlie", die scheinbar bis ins Weiße Haus reicht, täuscht darüber hinweg, dass das Blatt in der französischen Gesellschaft eine recht prekäre Stellung hatte. Zwar war es ideologisch mit dem linksliberalen Flügel der regierenden Sozialisten verbandelt, konnte aber von dieser politischen Nähe in wirtschaftlicher Hinsicht nicht wirklich profitieren, auch wenn der Staatspräsident vor kurzer Zeit Hilfen für die Presse in Aussicht gestellt haben soll. Der visuelle Radikalismus konnte kaum darüber hinwegtäuschen, dass das Blatt außer einem kämpferischen Laizismus wenig Akzente gegenüber der Regierungspolitik setzte. Über die Jahre kam es zum Rückgang von Auflage und Abonnenten. Zuletzt hatte das Blatt zu einer breiten Spendenkampagne aufgerufen, um die Einstellung der Zeitschrift zu vermeiden.
"Charlie" war selbst in der sozialistischen Linken zunehmend politisch isoliert. Die Publikation von Mohammed-Karikaturen sei "unverantwortlich", hatte es auch dort in Frankreich nach der letzten großen Empörungswelle in der islamischen Welt geheißen. Bürgerrechtler distanzierten sich vom Blatt und warfen ihm vor, Spannungen bewusst hervorzurufen und die Bevölkerung zu spalten. "Charlie" hielt Kurs, selbst als französische Schulen im Ausland aus Sicherheitsgründen die Tore (temporär) schlossen. Fortan trug es demonstrativ den Untertitel "Unverantwortliche Zeitung". Zuletzt kritisierte das Blatt die Musikfirma Sony unter der Überschrift "Welche Schande, Sony" für die Entscheidung, aus Furcht vor Anschlägen die Kinovorführung der Satire "The Interview" abzusetzen. Sony habe das getan, was die Politik und Leitmedien vergeblich von "Charlie" verlangt hätten, - "verantwortlich" zu handeln.
Für die Karikaturisten war "Charlie" überwiegend ein Standbein unter vielen anderen. Am Blatt schätzten sie vor allem die weitgehende Freiheit im Vergleich zu den redaktionellen Zwängen der etablierten Medien. Hier konnten sie Bilder ins Blatt heben, die an der inneren Schere im Kopf der Redakteure der großen Blätter scheiterten. Nur hier konnte der militante Laizismus in aller Schärfe Kritik an Religionen formulieren, nur hier wurden Politiker im wahrsten Sinne des Wortes unter der Gürtellinie kritisiert und karikiert. Die renommierte Satirezeitschrift "Le Canard Enchainé" wirkte gegenüber "Charlie" daher nur wie ein müder Opa, auch wenn im "Canard" mehr Leaks aus Behörden landeten als in "Charlie".
Aber auch "Charlie" kannte Grenzen. Unter dem ehemaligen Chefredakteur Val musste der Zeichner und Polemiker Siné gehen, weil es Differenzen über Inhalte seiner Kolumne gab. Der Chefredakteur beanstandete einen bereits veröffentlichten Textbeitrag über die Hochzeit des Sohns des damaligen Präsidenten Sarkozy und beendete die Zusammenarbeit. Einige Zeit später wurde Val - noch unter der Präsidentschaft von Sarkozy - Programmchef beim staatlichen Radiosender "France-Inter", wodurch die Nähe der Satirezeitschrift zum Staat noch einmal deutlich wurde. Siné zog ein eigenes Wochenblatt auf, das nach anfänglichen Erfolgen eingestellt und durch eine monatliche Zeitschrift ersetzt wurde. Bei "Siné Mensuel" ist der Derbheitsfaktor noch einmal potenziert, ohne allerdings die politische Bedeutung von "Charlie" zu erreichen.
Der Niederländische Journalistenverbandes NVJ rief am 8. Januar dazu auf, "Charlie Hebdo" zur Unterstützung zu abonnieren. Die französische Regierung und die Firma Google kündigten finanzielle Unterstützung für das Blatt an. Ob ein solches Sponsoring durch wohlmeinende Mitbürger, Staat und Internetgiganten wirklich mit dem Anspruch vereinbar ist, weiterhin "unverantwortlich" zu sein, wird sich zeigen.
Die Reaktion der internationalen Journalistengemeinschaft ist bei genauerer Betrachtung ganz unterschiedlich. Eine Reihe von Karikaturisten hat in Interviews deutlich gemacht, dass sie schon längere Zeit bestimmte Themen meiden, um sich und ihre Familien zu schützen. In US-Medien und in Großbritannien wurde bei der Berichterstattung über das Attentat auf die Wiedergabe der Karikaturen verzichtet, wenn sie nicht zumindest verpixelt wurden.
"Alles endet, aber nie die Musik", singt der Deutschrapper Casper sinnenfroh, und ähnlich wird es mit dem rücksichtslosen Witz von "Charlie" sein: Alles endet, aber nie der ätzende Humor. Doch aller fröhliche Trotz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Welt der politischen und gesellschaftlichen Karikatur und Polemik ganz große Federn verloren hat. Wer die Karikaturen von Wolinski, Charb, Cabu, Tignous und Honoré über die Jahre verfolgt hat, weiß, was für immer verloren ist.
MH
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