Es gibt nicht viele Berufsgruppen, die mehr Leichen sehen als die Journalisten: Fotografen, Kameraleute und Reporter aus nächster Distanz, Redakteure auf ihren Bildschirmen. Ob es Opfer von Verkehrsunfällen, von Hinrichtungen des Islamischen Staats oder von Terroranschlägen sind: Sie brennen sich ein in die Köpfe der Journalisten, verfolgen sie noch im Schlaf.
Die meisten dieser Bilder werden nie veröffentlicht. Warum das so ist? Weil es keinen Journalismus ohne Medienethik gibt, weil auch Tote Würde haben, weil Informationsbedürfnis nicht mit Voyeurismus verwechselt werden darf.
Und dann gibt es die Bilder, die ein Ereignis von historischer Tragweite zeigen, die es emotional begreiflich machen, die mehr als tausend Worte sagen. Das waren die Leichenberge in den befreiten Konzentrationslagern 1945, die nackten, weinenden Kinder mit herunter hängenden Hautfetzen nach einem Napalm-Angriff in Vietnam, das brennende World Trade-Center am 11. September 2001 in New York. Und das ist seit gestern der ertrunkene dreijährige Junge, angespült an einen türkischen Strand, der zum Symbol für die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer geworden ist. Welche Kraft dagegen die Fotos der Leichen in dem in Österreich gefundenen Lkw haben, die einige Boulevardzeitungen unbedingt veröffentlichen mussten, wird sich erst noch herausstellen. Voyeurismus oder Zeitgeschichte? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein Fall für den Presserat.
Hendrik Zörner