Deutscher Journalisten-Verband Gewerkschaft der Journalistinnen und Journalisten

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Christian Drosten

"Bild" im Clinch mit der Wissenschaft

26.05.2020

Wer hätte das noch vor einem halben Jahr gedacht? Die "Bild" versucht sich am Wissenschaftsjournalismus und mausert sich zu so etwas wie dem Ärzteblatt für jedermann – naja, fast...

Tweet von Christian Drosten (Quelle: Twitter)

Zumindest scheint es in der Redaktion eine klare Haltung und Bewertung der Arbeit verschiedener hochangesehener Experten auf ihrem Wissenschaftsfeld zu geben, darunter auch Dr. Christian Drosten.Dass es mal eine Spiegel-Analyse nach dem „Virologen mit der höchsten Medienpräsenz in Deutschland“ geben könnte, hätte vor einem halben Jahr ja auch noch niemand gedacht. Aber Corona hat die Wissenschaft und damit auch den Wissenschaftsjournalismus – oder das, was einige dafür halten – ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Anfrage des "Bild"-Redakteurs Filipp Piatov am Montag an Dr. Drosten nach einer kurzfristigen Stellungnahme zu verschiedenen Zitaten aus Studien, die seine eigene Studie, bzw. eigentlich nur die Vorveröffentlichung für sogenannte „Open Peer Reviews“, in Teilen kritisiert hatten, lief dann doch etwas anders, als man das wahrscheinlich aus dem Wissenschaftsjournalismus sonst gewohnt ist. Aber es hatte ja auch niemand angefragt aus dem Ressort „Leben und Wissen / Medizin / Multimedia“ (Ja, das gibt es bei "Bild".), sondern der Leiter „Meinung“ (Ja, auch das gibt es bei "Bild".) aus dem Politik-Ressort."Bild" gab Drosten eine Stunde, um auf drei Fragen zu antworten - davon zwei geschlossene Fragen, die Christian Drosten unter anderen Umständen mutmaßlich einfach mit „Ja“ beantwortet hätte. Ansonsten sicherlich extrem wenig Zeit für den gefragten und bestimmt überaus beschäftigten Virologen, inhaltlich sinnvoll auf die Fragen zu antworten oder sich überhaupt erst einmal mit den Zitaten in der Anfrage auseinanderzusetzen. Wenn das denn erwünscht war. Auf der anderen Seite sind knappe Fristen bei Presseanfragen nichts ungewöhnliches, gerade bei tagesaktueller Berichterstattung und Online-Medien. Unter anderem dafür haben Unternehmen Pressestellen.Nun lebt die Wissenschaft ja von einer lebendigen Debattenkultur, vielleicht entschied sich Dr. Drosten deshalb, die Anfrage öffentlich auf Twitter zu beantworten: „Interessant: die #Bild plant eine tendenziöse Berichterstattung über unsere Vorpublikation zu Viruslasten und bemüht dabei Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang. Ich soll innerhalb von einer Stunde Stellung nehmen. Ich habe Besseres zu tun.“ Leider verknüpft mit einem Screenshot der E-Mail, in der die Kontaktdaten samt Handynummer des "Bild"-Redakteurs zu lesen waren. Das mag der Eile oder dem Affekt geschuldet gewesen sein, war aber trotzdem ein Fehlgriff und wurde von Christian Drosten etwa eine Stunde später auch mit dem Löschen des alten und einem neuen Tweet ohne Kontaktdaten korrigiert.Allerdings ging es da auch schon so richtig rund, Unterstützer und Kritiker beider Seiten ließen wenig Gutes an den jeweils anderen. Die in der Anfrage zitierten, die Studie von Drosten kritisierenden Wissenschaftler solidarisierten sich schnell mit dem Virologen und distanzierten sich von BILD und der Berichterstattung. Einer legte sich sogar extra zu diesem Zweck ein Twitter-Konto an. Tenor: Man habe, vorsichtig ausgedrückt, ihre Kritik wohl nicht so richtig verstanden und eingeordnet. Den Nachweis, dass Drosten „mit seiner wichtigsten Corona-Studie komplett daneben“ gelegen habe, bleibt "Bild" aber tatsächlich schuldig.Und wie zu erwarten steht im Artikel auch „BILD konfrontierte Christian Drosten mit den Vorwürfen. Drosten wollte auf BILD-Anfrage nicht antworten. Stattdessen veröffentlichte er die BILD-Anfrage auf Twitter und schrieb dazu, er habe „Besseres zu tun“.“ Seine Unterstützer auf Twitter sehen darin einen coolen Move, der BILD die kalte Schulter zu zeigen. Vielleicht wäre es aber auch eleganter gegangen, beispielsweise einfach mit dem Hinweis, für die Beantwortung der Anfrage mehr Zeit zu benötigen. Denn was die aktuelle Debatte und die mit der Lösung der Coronakrise beschäftigten Wissenschaftler*innen sicher nicht brauchen, ist eine noch heißere Debatte auf irgendwelchen Nebenkriegsschauplätzen. Wobei man fairerweise sagen muss, dass gerade Christian Drosten sich auch willentlich und wissentlich ins Zentrum dieser Öffentlichkeit begeben hat. Gar nicht mal unbedingt mit seinem Podcast beim NDR oder Interviews, aber durchaus mit seinem Twitteraccount mit mittlerweile über 370.000 Followern, den er aktiv nutzt. Und die "Bild" scheint sich gerne an dem leichten, weil auf jeden Fall eine heftige und emotionale Reaktion durch viele Menschen versprechenden, Ziel Christian Drosten abzuarbeiten. Das tut weder der Wissenschaft noch dem Journalismus gut – mal ganz abgesehen von den vielen Menschen, die dort Sicherheit und Orientierung in der Krise suchen. Aber um Verständnis scheint es weder "Bild" noch Drosten in dieser Konfrontation zu gehen. Fast möchte man Herrn Drosten raten, es doch mit der Berliner Band „Die Ärzte“ (welch Ironie) zu halten und ihrem thematisch immer noch aktuellen Lied „Lasse redn“…

Ein Kommentar von Paul Eschenhagen

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