Deutscher Journalisten-Verband Gewerkschaft der Journalistinnen und Journalisten

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Freie Journalisten

Berichterstattung auf Anweisung von oben?

25.01.2016

Wenn praktisch alle einer Meinung sind, braucht es keine Vorgaben

Nicht zu beneiden um ihre unfreiwillige Bekanntheit ist eine freie Journalistin, die kürzlich in einem niederländischen Sender über die Ausrichtung der deutschen Rundfunkanstalten sprach.

Die freie Mitarbeiterin des Westdeutschen Rundfunk (WDR) sprach vor einem Hörerpublikum, das ein ganz anderes System kennt. In den Niederlanden gibt es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk das "Säulensystem". Es wird versucht, die unterschiedlichen religiösen und gesellschaftlichen Gruppen nicht von einer einzigen Rundfunkanstalt bedienen zu lassen, sondern ihnen eigene Sender zur Verfügung zu stellen. Die Bürger werden dazu Mitglieder von Vereinen - nach der Zahl der Mitglieder richtet sich dann die finanzielle Ausstattung. So gibt es einen sozialdemokratischen, einen protestantischen, einen katholischen und noch anders ausgerichtete Sender. So kann ein Sender geradezu parteilich berichten, ohne dass ihm jemand einen Vorwurf machen kann.

Deutschland lebt dagegen mit der Konzeption der neutralen Rundfunkanstalt, deren Programm unter anderem von einem Rundfunkrat bestimmt werden soll. Die gesellschaftlichen Gruppen und Parteien betreiben also keine separaten Sender, sondern sollen trotz unterschiedlicher Ansichten eine einzige Rundfunkanstalt beraten. Die Folge ist mitunter eine Senderpolitik, die viel Kompromiss der großen Mehrheit und wenig Platz für Abweichler bietet.

Die freie Journalistin übersetzte diese für niederländische Bürger ungewohnte deutsche Senderpolitik und ihre Institutionen in die Kurzform, dass "Ausschüsse" Anweisungen geben, was zu berichten wäre. Mit den "Ausschüssen" waren dabei der Rundfunkrat und dessen Arbeitsbereiche gemeint.

Die Verkürzung sorgte binnen kürzester Zeit über Berichte in den sozialen Medien, die bald von deutschen Onlinezeitungen aufgegriffen wurden, für Skandalmeldungen: "Journalisten arbeiten auf Anweisung".

Ihre Aussagen zog die freie Mitarbeiterin unter diesen Umständen schnell zurück, ihr Sender dementierte ebenfalls. Freie Mitarbeiter des WDR diskutierten über eine eigene Reaktion und brachten am Ende einen recht kurzen offenen Brief auf den Weg, mit dem sie darauf aufmerksam machen wollten, dass sie noch nie Anweisungen für die Berichterstattung bekommen hatten. Der Brief war namentlich zu unterzeichnen, schon weil die Zahl der freien Mitarbeiter des WDR insgesamt eher um die 15.000 Personen liegen dürfte und damit natürlich niemand für alle sprechen konnte. In seiner Kürze gab er die Erfahrung vieler Freier richtig wieder: Wir wurden noch nie angewiesen, etwas Bestimmtes zu berichten.

Es dauerte allerdings nur kurze Zeit, bis die Tatsache, dass es unter Freien über die Inhalte des Briefe einige Diskussionen gegeben hatte, die in der Endfassung nicht berücksichtigt wurden, als Geschichte eigener Art und mit dem Charme des geradezu investigativ präsentierten „Leaks“ in den Medienmagazinen vermeldet wurde. Gab es also doch "Anweisungen", zumindest in subtiler Form?

Noch während die Fachmedien und die sozialen Netze über diese internen Diskussionsprozesse berichteten, sorgte die freie Mitarbeiterin gegenüber der "Rheinischen Post" für neuen Stoff: Nun sagte sie:

"Unausgesprochen haben sich fast alle Journalisten über Jahre einen Maulkorb auferlegt, so wie auch die Polizei und die Politik. Wir haben doch alle die Tatsachen verschwiegen, political correctness falsch verstanden…"

"Wir Journalisten standen…in einer gewissen Euphorie zu diesem ausgegebenen Slogan der Willkommenskultur."

"Ich habe das eben so empfunden, dass man als Journalist in diesen Monaten, als die Flüchtlinge kamen und manche dann auch straffällig wurden, nicht allzu kritisch berichten sollte."


Diese Aussagen werden nun in vielen Medien zurückgewiesen. So bezeichnete der als Recherchefachmann bekannte Redakteur der Süddeutschen Zeitung Hans Leyendecker die Vorwürfe als "absurd" und meinte, er hätte in seiner langen journalistischen Karriere durch viele Redaktionen nie inhaltlichen Restriktionen gegenübergestanden. Sekundiert wird er von vielen anderen, die es genauso sehen.

Die freie Mitarbeiterin steht derweil so allein da wie das Kind, das einstmals gerufen haben soll: "Der Kaiser hat keine Kleider an". Applaus bekommt sie vorerst nur von Leuten, die eigentlich auch nicht so dafür bekannt sind, dass sie wirklich in jeder Angelegenheit für Aufklärung und Meinungsfreiheit eintreten.

Gibt es Anweisungen beim WDR, was berichtet werden soll, sei es vom Rundfunkrat oder von anderen Verantwortlichen, von Abteilungsleitern oder vorgesetzten Redakteuren? In der direkten Form wohl eher sehr selten, denn beim Journalistenverband ist von solchen Klagen bisher wenig zu hören, über Jahre hinweg nicht. Auch in der Mailingliste der Freien im WDR waren Klagen über „Anweisungen“ bislang nicht bekannt.

Was viele am WDR tatsächlich nie erlebt haben, kennen jedoch andere im Rundfunk, wenn auch hier nur wenige. So gibt es zumindest an einer anderen Rundfunkanstalt den Fall eines Moderatoren, dem beispielsweise die Verwendung eines bestimmten Begriffs verboten wurde, weil er politisch nicht angebracht sei. Andere Freie erleben, dass ihre Themenangebote nicht akzeptiert werden oder sie komplett von Redaktionen gemieden werden, weil sie als zu problematisch gelten. Noch andere bieten Themen gar nicht an, weil sie sich ausrechnen, dass das Angebot nicht zur Ausrichtung der jeweiligen Redaktionsleitung passt.

Das Problem der „inneren Pressefreiheit“ und der richtigen Themensetzung ist hinter den Kulissen ein Dauerthema, mit dem sich auch die Redakteursvertretungen befassen. Allerdings kommt der Anstoß für die Debatte über die Ausrichtung nicht nur von „unten“, sondern genauso von „oben“: Die Sendeleitungen geben sich oft genug selbst besorgt um die Ausrichtung ihrer Programme und sorgen durch die Befristung von Arbeitsverträgen bis hin zur Beauftragung vornehmlich freier Mitarbeiter dafür, dass sie sich jederzeit von Personen trennen können, deren politische oder gesellschaftliche Ausrichtung aus Sicht der Programmverantwortlichen nicht mehr „passt“. Oft genug „passt“ dabei schon nicht mehr, was über 40 Jahre alt oder mehr als zehn Jahre dabei ist, unabhängig von der politischen Ausrichtung. "Jung sein sollen", das gilt da mitunter auch schon als Programmentscheidung. Das Ganze nennt sich „Programmfreiheit“ und hat als Teil der „Rundfunkfreiheit“ sogar den Segen des Bundesverfassungsgerichts gefunden.

Journalistenverbände kritisieren zudem immer wieder die Besetzung von Rundfunkräten, wenn sie Anzeichen für politische Einflussnahme sehen - weil sie wissen, dass die Rundfunkräte durchaus einen Einfluss auf die programmliche Ausrichtung und damit die Freiheit der Berichterstattung haben. Auch bei der Nichtverlängerung des Vertrags eines Chefredakteurs gab es beim ZDF Proteste der Verbände mit Hinweis auf politische Hintergründe. Die plötzlichen Mitteilungen von verschiedener Seite, es gäbe nun überhaupt keine Einflussnahmen, dürfen kritische Beobachter daher schon stutzig machen.

Gab es nun „Anweisungen“ oder zumindest einen auch „selbst auferlegten Maulkorb“? Der Vorwurf klingt schlimm und ist gleichzeitig irreführend – er unterstellt, dass freie Journalisten des WDR seit langer Zeit gewusst hätten, dass etwas schief lief und sie etwas eigentlich hätten melden wollen, was ihnen verwehrt worden wäre. Zwar gibt es Rückmeldungen, dass einzelne Themenangebote abgelehnt wurden, - als Massenphänomen darf das allerdings bezweifelt werden.

Am wahrscheinlichsten erscheint, dass Journalisten am WDR – und anderswo - so gut wie nie eine Anweisung erhalten haben, positiv über den Zuzug von Flüchtlingen zu berichten. Das wäre wohl auch gar nicht notwendig gewesen, weil die meisten von ihnen selbst davon überzeugt gewesen sein dürften, dass diese Maßnahme im Prinzip richtig war.

Zwar gibt es über diese Frage, wie die Journalisten am WDR im letzten Halbjahr zum Thema Flüchtlingspolitik eingestellt waren, keine statistischen Belege. Eines ist aber klar: Im Sommer und auch noch im Herbst 2015 traten sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien für den Zuzug von Flüchtlingen ein und sahen die dabei möglicherweise eintretenden Begleitprobleme als lösbar an. Ein großer Teil dieser Parteien steht ja selbst heute noch zu dieser Erwartung. Übrigens muss sich niemand dafür entschuldigen. Optimismus und Hilfeleistung gelten gemeinhin als Tugenden, und eine positive Einstellung kann helfen, viele Probleme zu bewältigen.

Wenn die gesamte Gesellschaft in Euphorie oder zumindest positiv gesinnt scheint, warum sollten nun ausgerechnet die Journalisten in eine Fundamentalopposition verfallen? Diejenigen, die heute den „Journalisten als Wadenbeißer“ wünschen, werden ihn, sobald sie selbst an der Macht sein werden, ja auch sicherlich ganz schnell wieder verdammen. Am besten mit Hilfe eines von ihnen selbst kontrollierten Rundfunkrates. Dann wird ihnen vermutlich einfallen, dass „konstruktiver Journalismus“ das einzig Wahre ist.

Mögliche Kriminalität und sonstige Probleme nicht zum großen Thema zu machen, wenn man selbst davon überzeugt ist, dass deren Auftreten allenfalls ein vorübergehendes und zu bewältigendes Problem ist, kann nicht wirklich als Maulkorb bezeichnet werden. Es ist eher das, was im Journalismus als redaktionelle Entscheidung jeden Tag stattfindet. Einige Themen des Tages werden herausgegriffen, andere werden bewusst nicht thematisiert. Es spricht daher auch einiges dafür, dass die fehlende Berichterstattung vor "Köln" wie auch danach deren nur schleppender Beginn kein Versehen waren, sondern eine ganz bewusste redaktionelle Entscheidung auf vielen Ebenen, ganz ohne Anweisungen.

Was die erwähnte freie Mitarbeiterin einen "Maulkorb" nennt, wäre daher besser als "redaktionelle Grundentscheidung" zu bezeichnen. Diese wurde wohl kaum von einem einzigen Ausschuss angewiesen, sondern war (und ist sicherlich immer noch) in vielen Redaktionen und auch bei vielen Freien als richtig anerkannt. Ob diese - unausgesprochene - redaktionelle Grundentscheidung in dieser optimistischen Form richtig war und ist, muss natürlich diskutiert werden, seitdem durch die sexualisierte Gewalt in der Kölner Silvesternacht gravierende Fehleinschätzungen in dieser Hinsicht deutlich geworden sind.

Interessant ist freilich, dass auch nach "Köln" die wirklich kritischen Stimmen gegenüber der aktuellen Migrationspolitik der Regierung weiterhin nicht in den Rundfunkanstalten zu finden sind, sondern vor allem in den Privatsendern wie n-tv und Medien wie die Frankfurter Allgemeine oder die Springergruppe. Doch auch wenn dort nun einige Redakteure mit dem Zeigefinger auf die zögerliche Berichterstattung der Rundfunkanstalten weisen, darf daran erinnert werden, dass viele dieser Medien bis vor kurzem genauso einseitig berichtet haben.

Besonders eklatant ist die Springerpresse. So warb die BILD-Zeitung massiv für ihre Aktion „Wir helfen – #refugeeswelcome“. Von irgendeiner Distanz zur offiziellen Flüchtlingspolitik keine Spur. Seit kurzer Zeit greifen die Medien von Axel Springer wiederum so massiv an, als säßen ihre Redakteure in Schützengräben einige hundert Meter vom Reichstag entfernt, zum Endsturm auf das Kanzleramt bereit. Zuletzt gab es in der WELT die Überschrift „Einsam. Einsamer. Merkel.“ Ist dieser rasche, radikale Wechsel nicht auch nur eine neue Einseitigkeit, die jetzt „positive Berichterstattung“ unmöglich macht?

Es bleibt in anderen Bereichen der Medien und auch bei vielen Rundfunkanstalten freilich nach wie vor bei der bereits erwähnten redaktionellen Grundentscheidung, positiv über die Flüchtlingspolitik zu berichten und Problemfälle nur sehr zögerlich oder lückenhaft im Programm zu erwähnen. Ausnahmen wie eine Sendung "hart aber fair" mit Frank Plasberg im WDR, in der Versäumnisse der Anstalten zur Sprache gebracht wurden, scheinen eher die Regel zu bestätigen.

Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn Deutschland im Rundfunk ein Säulensystem wie in den Niederlanden hätte. Sender mit deutlicheren Positionen, mehr Möglichkeiten zum Dissens. Möglicherweise wäre dann in dem einen oder anderen Sender Kritik früher und klarer formuliert worden. Aber auch das ist reine Spekulation. Denn die Gründung gänzlich neuer Sender ist auch den Niederlanden ein Prozess, der nicht von heute auf morgen möglich ist.

Keine direkten Anweisungen von oben, kein Maulkorb, sondern auf vielen Ebenen unabhängig voneinander getroffene redaktionelle Grundentscheidungen, zu denen viele standen und auch nach wie vor stehen, diese Annahme erscheint zumindest recht plausibel.

Die freie Kollegin, die mit ihrer Suche nach dem Grund für die unübersehbare Ausrichtung ihres Senders nach griffigen Erklärungen suchte, lag wohl ein gutes Stück daneben. Dennoch verdient sie Respekt dafür, eine wichtige Diskussion angestoßen zu haben, die noch gar nicht richtig begonnen hat.

Michael Hirschler (hir@djv.de)
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