Deutscher Journalisten-Verband Gewerkschaft der Journalistinnen und Journalisten

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Fall Eriksen

Wenn der Anstand Sendepause hat

14.06.2021

Es sind Schockaugenblicke, die das ZDF am Samstag zeigt: Christian Eriksen kollabiert während der EM-Partie Dänemark-Finnland. Auch als zu sehen ist, dass der dänische Nationalspieler auf dem Fußballfeld reanimiert wird, stoppt der Sender nicht die Übertragung. Beschämend: Sogar am Tag danach wollen die Mainzer nicht einsehen, dass sie gravierende Fehler begangen haben.

Dänische Mannschaft: vor Kameras abgeschirmt. Foto: picture alliance Wolfgang Rattay

Live-Übertragung, Samstagnachmittag: Helfer eilen auf den Rasen, um dem kollabierten Christian Eriksen zu helfen. Die Kameras zeigen, wie sie mit der Herzdruckmassage beginnen. Die Dramatik erschließt sich den Zuschauern vor Ort sofort: Eriksens Ehefrau dachte, er sei tot, schreibt die Bild am Sonntag. Die Fans im Stadion halten sich die Hände vors Gesicht, einige umarmen sich. Für das ZDF kein Anlass, von der Übertragung der Bilder abzusehen. Im Gegenteil: Immer wieder ist in Großaufnahmen zu sehen, wie der Spieler reanimiert wird. Seine Mannschaftskollegen handeln, bilden einen Kreis um ihren Kameraden, versuchen ihn so vor dem neugierigen Blick der Kameras zu schützen. Doch das ZDF lässt sich von dieser menschlichen Geste nicht beeindrucken, überträgt weiter das Bild der EM-Partie, es dauert quälend lange Momente, bis die Bildregie endlich rauszoomt und nur noch Publikumsreaktionen einfängt.
Es gibt Augenblicke im Berufsleben, da braucht man kein Handbuch. Auch ohne Blick in den Pressekodex hätte man wissen können, nein - müssen! - was in einem solchen Augenblick zu tun ist: So etwas macht man nicht! Wenn ein Mensch ums Leben ringt, ist alles andere zweitrangig. Eindrucksvoll haben dies die Kommentatoren des ZDF deutlich gemacht. Bela Rethy zeigt sich schockiert, Moderator Jochen Breyer, seine Experten-Gäste Christoph Kramer und Per Merteseacker sind tief betroffen. Alleine der Sender kann sich nicht durchringen, die Übertragung endlich abzubrechen. Als dies viel zu spät doch noch geschieht, der nächste Fauxpas: Im Alternativprogramm wird eine Folge des Bergdoktors gezeigt, eine Frau in der fiktionalen Serie vom Blitz erschlagen, sie muss um ihr Leben kämpfen – Szenen, die an das erinnern, was zuvor vom Fußballspiel gezeigt wurde. Auch hier reagiert niemand, das fiktionale Drama nach dem echten läuft einfach weiter.
Fehler passieren. Erst recht bei Live-Ereignissen, erst recht unter Druck. Fans, auch Journalisten-Kolleg:innen nehmen den Sender daher am Wochenende vor Kritik in Schutz. Etliche nehmen aber auch die UEFA in Schutz, die sich sogar für eine Fortsetzung des Spiels entscheidet – schließlich sei dies der Wille der Mannschaft gewesen, wie sie behauptet. Doch schon am nächsten Tag kommen ganz andere Töne aus Dänemark. Im Nachhinein sei es eine falsche Entscheidung weiterzumachen gewesen, heißt es vom Team, die Spieler sollen nun Therapieangebote erhalten, sind traumatisiert. Auch die Darstellung der UEFA, nur im Interesse der Teams gehandelt zu haben, bekommt am Tag danach Risse. Wie konnte sich das ZDF nur so blind auf die Seite des Veranstalters stellen und dessen Entscheidung kritiklos folgen - ist der Kommerz dieser Fußballindustrie wirklich so wichtig, wenn ein junger Mensch vor den Augen von Millionen um sein Überleben kämpft?
Der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV) meldet sich noch am Samstagabend zu Wort. Frank Überall nannte den Vorfall "unerträglich". Andere Sender handeln umgehend. Die britische BBC etwa entschuldigt sich noch am Samstagabend bei ihren Zuschauern für die Übertragung von Bildern. Man habe schnellstmöglich die Übertragung abgebrochen. Gut so! In Mainz hingegen will man aber immer noch keinen Fehler erkennen, bleibt auch am Sonntag trotzig - es sei alles richtig gemacht worden, heißt es vom Lerchenberg.
Solche traumatisierenden Augenblicke sind für uns alle ein Anlass zum Innehalten, ein Stoppschild. Vor allem für Journalist:innen, die das Geschehen eben nicht als Fans begleiten, sondern kritisch einordnen müssen. Viele haben das auch am Wochenende getan. Etwa Jonathan Sachse von Correctiv-Lokal, der nach dem EM-Zwischenfall auffordert, eben nicht einfach weiterzumachen. "Allein in den letzen sechs Jahren sind weltweit hunderte Fußballer am plötzlichen Herztod gestorben", schreibt Sachse auf Twitter - und regt eine Debatte an über Gesundheit im Profifußball. Auch etliche widerliche Verschwörungserzählungen, die sofort in selbsternannten Querdenkerkreisen die Runde machen und von einer angeblichen Corona-Impfung als Ursache fantasieren, wären es wert gewesen, beleuchtet zu werden.
Ein Kommentar von Mika Beuster

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