News für Freie
Dokumentarfilmer startet Bewegung für das Arbeitsrecht und prekär Beschäftigte
Gehört die "Nuit debout" nach Deutschland?
Es ging zunächst darum, die neoliberalen Reformen des Wirtschaftsministers Macron abzuwehren. Längst allerdings haben die Proteste auch andere Themen aufgenommen. So sind auch die Vertreter der freien, prekär beschäftigten Schauspieler („intermittents du spectacle“) unter den Protestierenden, unter dem Motto „Konvergenz der Kämpfe“. Den Schauspielern geht es darum, die Regelungen für ihre Arbeitslosenversicherung zu retten und auszubauen. Zuletzt sah es hier sogar nach einem Erfolg aus. Wenn es klappt, können die unständig Beschäftigten in Frankreich einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erhalten, wenn sie 507 Stunden Arbeit in zwölf Monaten nachweisen.
Journalisten, die als soziale Aktivisten unterwegs sind: Manche Journalismus-Experten sehen hier eine Verirrung: „Journalisten machen sich nicht gemein“, heißt es oft. François Ruffin sieht es anders. Sein Dokumentarfilm „Merci Patron!“ (Danke Chef!) macht die Verlagerung einer Firma von Frankreich nach Polen zum Thema, der Dokumentarfilmer tritt selbst auf Hauptversammlungen der Aktiengesellschaft auf und kritisiert das Vorhaben. Die Legende will, dass die Zuschauer nach der Vorführung des Films auf die Straße strömten und spontan zur Bewegung wurden, die jetzt unter dem Begriff „Nuit debout“ in Paris, zunehmend aber auch in der französischen Provinz für Aufmerksamkeit sorgt.
Ganz so spontan ist die Bewegung nicht entstanden. Spätestens Anfang März hatten die Franzosen Kontakt zu den Aktivisten der spanischen Bewegung „Podemos“ aufgenommen. Diese längst im Parlament, wenn auch noch nicht in der Regierung angekommene Organisation schickte Vertreter nach Paris. Diese zeigten den Aktivisten rund um Ruffin, wie Protest via Social Media organisiert werden kann. Der Anspruch von "Nuit debout" ist dementsprechend nicht mehr allein auf den Kampf um einige Gesetze fokussiert, sondern zielt auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der prekär Beschäftigten, wenn nicht noch darüber hinaus auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Kein Wunder, dass schon längst von europaweiter, ja weltweiter Verbreitung des Protests die Rede ist.
Wie steht es um Deutschland? Besteht die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit, den Funken, der in Frankreich gezündet wurde, hierzulande zu nutzen? Können prekär Beschäftigte hierzulande mit dieser Bewegung zum Erfolg kommen? Und müssen Journalisten, die selbst oft genug zu den prekär Beschäftigten gehören, nicht genau wie in Frankreich zu Katalysatoren der sozialen Auseinandersetzung werden? Ist nicht gerade auch die Arbeitslosenversicherung für die tageweise Beschäftigten im Kultur- und Medienbereich ein ungelöstes Problem?
Die ersten Ansätze für Aktionen gibt es schon. Aufrufe über soziale Medien zu ersten Protesten in Berlin oder Köln hat es schon gegeben, doch sie blieben weithin unter dem Radar der Leitmedien.
Die Besonderheit in Deutschland: Anders als in vielen anderen Ländern läuft die deutsche Wirtschaft weiterhin robust, in manchen Wirtschaftsbereichen herrscht geradezu Vollbeschäftigung. Die Löhne steigen, und das Land wird von einer Bundesregierung geführt, die erst gerade den Mindestlohn eingeführt hat, weitere Sozialgesetze wie Regeln gegen Leiharbeit zu planen vorgibt, Rentenerhöhungen durchsetzt und den Abbau des Arbeitsrechts gar nicht im aktuellen Programm hat.
Forderungen nach dem Abbau des Sozialstaats kommen in Deutschland derzeit – ausnahmsweise – einmal nicht von der Regierung, sondern eher von rechtspopulistischen Parteien wie der „Alternative für Deutschland“ oder auch der - zuletzt im politischen Nirvana befindlichen - FDP, die derzeit mit dem Wiedereinzug in die Parlamente rechnet. Vor allem gegen die neoliberalen Vorstellungen solcher Parteien müssten sich die prekär Beschäftigten wenden, weniger wohl gegen die aktuelle Regierung. Diese ist zwar mit ihrer rabiaten Sparpolitik selbst durch und durch neoliberal unterwegs, vermeidet aber den harten Kantenschlag, wie ihn die französische Regierung aktuell praktizieren will.
Das deutsche Prekariat scheint daher zurzeit eher wenig Aussichten zu haben, mit einer einfachen Kopie der „Nuit debout“ für große Aufmerksamkeit zu sorgen. Forderungen nach einem deutlich höheren Mindestlohn, bessere Bedingungen bei der Arbeitslosenversicherung bis hin zur Abschaffung der Hartz-IV-Regelungen könnten natürlich schon für eine gewisse Mobilisierung der Betroffenen sorgen. Da ein Großteil der deutschen Arbeitsbevölkerung allerdings derzeit vollbeschäftigt ist, dürften solche Aktionen wenig Rückhalt finden. Als Unterstützer kommen neben den „Berufsaktivisten“ sozialer und gewerkschaftlicher Organisationen vor allem nur diejenigen Personen aus den Milieus in Betracht, die sich ohnehin bei praktisch jeder Bewegung aktivieren lassen. Das aber sind zu wenige, im Vergleich zu den aktuellen Ereignissen in Frankreich.
Dennoch kann es nicht schaden, die Protestbewegung in Frankreich weiter zu verfolgen und zu prüfen, welche Ideen und Ansätze früher oder später übernommen werden könnten. Journalisten können sich jedenfalls sicher sein, dass ihre journalistische Arbeit mitunter sehr wirksam sein kann. Mit frischem Gründergeist und einer gewissen drolligen Unverdrossenheit kann so einiges in Gang gebracht werden: François Ruffin hat es gezeigt.
Michael Hirschler, hir@djv.de
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