Deutscher Journalisten-Verband Gewerkschaft der Journalistinnen und Journalisten

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Sexismus-Debatte

„Ihr seid ja schon so weit gekommen“

16.11.2018

Wie die #MeToo-Bewegung Schweden verändert hat

Initiatorinnen des #Deadline-Aufrufs: Emma und Johanna Lindqvist

Schon kurz nachdem der Hashtag in Schweden das erste Mal gepostet wurde, hat die Bevölkerung in dem nördlichen Land #MeToo öfter als in jedem anderen gegoogelt. Ein Jahr später lässt sich konstatieren, dass die MeToo-Bewegung die Perspektive vieler Schweden fundamental verändert hat. Im Fokus der Entwicklungen standen dabei auch und gerade die Medien.

Wenn ich als Schwedin andere Länder besuche, höre ich oft viele warme Worte: In den Augen der  meisten Menschen ist unser Land ein Vorbild für eine offene und gleichberechtigte Gesellschaft. Jedes Mal fühle ich mich dabei ein bisschen unwohl. Denn das scheinbar perfekte Bild muss differenziert betrachtet werden.

Mehr als eine neue Nuance hat die #MeToo-Bewegung im letzten Jahr aufgeworfen. Die öffentliche Debatte lässt sich dabei anhand zweier Handlungslinien beschreiben.

Zeitgleich mit vielen Frauen auf der ganzen Welt haben auch die Schwedinnen im Herbst 2017 ihre persönlichen Erlebnisse unter #MeToo in sozialen Medien publiziert. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, wie viele Branchen das Echo dieses Hashtags erschüttern würde.

Der furiose Auftakt kam aus der Kulturbranche. 456 Frauen organisierten sich in einer Gruppe auf Facebook, um einen gemeinsamen Protest in der Tageszeitung „Svenska Dagbladet“ zu publizieren. Der Hashtag, unter dem Betroffene ihre Erlebnisse mit sexueller Belästigungen hinter den Kulissen in der Film- und Theaterwirtschaft schilderten, lautete #Tystnadtagning. Angeprangert wurden Machtmissbrauch, sexualisierte Gewalt und Sexismus.
Die Politik reagierte mit deutlichen Worten. Die Kulturministerin Alice Bah Kuhnke erklärt, dass sie „angeekelt“ sei. Staatsminister Stefan Löfven: „Wir müssen drastisch etwas verändern.“
Gleich darauf folgten weitere Berufsgruppen: Ärztinnen, Ingenieurinnen, Sozialarbeiterinnen, Juristinnen – selbst Hard-Rock-Musikerinnen publizieren ihre Aufrufe und stellen Forderungen zur Veränderungen ihrer Arbeitsumgebung. Der Aufruf von Journalistinnen ließ nicht lange auf sich warten. Unter dem Schlagwort #Deadline sammelten über 4.000 Journalistinnen ihre Erfahrungen und erhoben ihre Stimme. Eine von ihnen beschreibt, wie ein männlicher Mentor ihr immer wieder sexuelle Anspielungen per SMS geschickt hat. Eine andere berichtet über den Vorschlag eines Kollegen, sich auf der Toilette in der Redaktion zu treffen. Mehrere Journalistinnen waren sogar von Vergewaltigungen in Verbindung mit ihrer Arbeit betroffen. Der Pressesprecher des Schwedischen Journalisten-Verbands, Jacob Lapidus berichtet, er habe zunächst den Eindruck gehabt, als wäre die Medienbranche das allerschlimmste Arbeitsumfeld für Frauen. „Das hat sich später ein bisschen verändert, als die Geschichten aus den anderen Branchen publiziert wurden, sagte er. Einen Monat nach dem ersten Appell haben mehr als 70.000 Frauen einen weiteren von insgesamt 50 verschiedenen Aufruf unterzeichnet. Eine klare Absage an Sexismus und Machtmissbrauch.


Spagat zwischen Betroffenheit und Objektivität Als Journalist*innen sind wir Arbeitnehmer*innen, aber auch Publizisten. Bei #MeToo war es für viele Kolleginnen und Kollegen eine echte Herausforderung, diese beiden verschiedenen Rollen auszubalancieren. Denn natürlich können wir selbst betroffen sein oder dürfen wütend sein - aber wir müssen trotzdem so objektiv wie möglich berichten. Die zweite Handlungslinie der #MeToo-Bewegung in schwedischen Medien beinhaltet genau diesen Aspekt. Der Deutsche Harvey Weinstein heißt Dieter Wedel. In Schweden haben verschiedene Männer diesen gefürchteten Titel getragen. Der schwedische Pressekodex stellt klar, dass der Name eines Straftäters nur dann publiziert werden darf, wenn das Interesse an einer Straftat für die Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Mitunter ist das eine schwere Entscheidung. So wurden die Portraits und Namen des Programmleiters eines schwedischen Fernsehkanals sowie eines Kulturjournalisten in nationalen Zeitungen gedruckt. Der Programmleiter ist als Tischler aus dem Programm „Endlich Zuhause“ bekannt. Der Kulturjournalist war damals Kolumnist in der größten Zeitung Schwedens. Gibt es ein gesellschaftliches Interesse an den Handlungen des Tischlers im Kanal 4? Und wie viele Fälle und Anschuldigungen von sexualisiertem Machtmissbrauch sind genug, um zu legitimieren, dass ein Artikel erscheint, in dem die Anonymität aufgehoben wird? Parallel zur breiten Diskussion um Sexismus und Belästigung entflammte also eine Debatte um die Pressethik und grundlegende journalistische Verhaltensweisen.  Schwedens Presserat hat bis heute sechs Zeitungen gerügt, insgesamt ging es dabei um zehn Publikationen zum Thema #MeToo. In der Begründung hieß es, dass die Vorwürfe nicht ausreichend belegt seien und die Beschuldigten lebenslange Folgen zu tragen hätten. Beide Männer haben ihren Job  in der Medienbranche verloren. Nun ein Jahr später und mit entsprechendem Abstand betrachtet, kann festgehalten werden, dass es in vielen Redaktionen ein vor und ein nach #MeToo gibt. Was wurde konkret getan? Der schwedische Journalisten-Verband hat nach dem #Deadline-Aufruf Informationsmaterial über sexualisiertem Machtmissbrauch und Diskriminierung verschickt. Auch einige Medienhäuser haben Strategien erarbeitet, um das Ausmaß des Problems zu evaluieren und proaktiv anzugehen. „Als Verband haben wir eher einzelne Situationen lösen können, aber oftmals mit strikter Vertraulichkeit. In Zukunft müssen wir effektiver strukturelle Probleme lokalisieren können“, so Lapidus.
Revolution oder Hexenjagd? Ein Jahr nach #MeToo geht die Diskussion in der schwedischen Gesellschaft weiter. Klar dürfte nach dieser breiten gesellschaftlichen und medialen Debatte vor allem eines sein: Auch wir in Schweden haben noch viel Arbeit vor uns, was die Geschlechtergerechtigkeit betrifft. Über die Autorin: Lovisa Herold arbeitet als Journalistin beim schwedischen Fernsehen, SVT. Parallel nimmt sie am EU-Programm AGEMI (Advancing Gender Equality in the Media) teil und absolvierte in diesem Rahmen im November 2018 ein Praktikum beim DJV-Referat Chancengleichheit und Diversity. 
Mehr Info unter: agemi-eu.org

Kontakt zur Autorin: Lovisa.herold@gmail.com
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